Die Geschichte zweier Fliegerschicksale
Die kleinen Zufälle sind es häufig, die dann, wenn man die sie begleitenden Umstände untersucht, manchen Geschehnissen einen außerordentlich interessanten Aspekt verleihen oder nicht selten dazu beitragen, bestimmten Ereignissen die fehlenden Daten hinzuzufügen, um somit einen abgeschlossenen Vorgang zu erhalten, wie in dem nachfolgend aufgezeichneten Fall.
Hier wird eine Begebenheit, die nur ein winziges Detail des Luftkriegsgeschehens im Zweiten Weltkrieg darstellt, durch eine nach 41 Jahren mehr zufällig hervorgeholte Fotographie wieder gegenwärtig. Umfangreiche Nachforschungen, die zunächst in die falsche Richtung laufen, führen schließlich auf die Spur von zwei Flugzeugführern, für deren Schicksal es sicherlich ungezählte Parallelen gibt.
Es beginnt damit, daß Gunther Tünnermann aus Kelkheim/Ts. im Verlauf vieler ausgedehnter Klönabende während
seines Urlaubs auf der Insel Pellworm im Sommer 1981von seinem Gastgeber, Heinz von Holdt, einige Einzelheiten über den Absturz eines Kriegsflugzeugs der Alliierten erfährt, nachdem er aus Interesse an luftkriegsgeschichtlichen Ereignissen gezielt nach solchen Vorkommnissen gefragt hat. Der in der nordfriesischen Inselwelt vor allem als "Kabelläufer" bekannte Schiffseigner von Holdt (er überwacht den Zustand der Postkabelverbindungen in den Watten und gräbt freigespülte Strecken wieder ein) findet schließlich ein altes Foto, auf dem Wrackteile zu sehen sind, aufgenommen auf Süderoog-Sand vermutlich im Sommer 1948. Im Hintergrund erkennt man die Insel Süderoog sowie den oberen Teil eines auf Norderoog-Sand befindlichen Gebäudes.
Gunther Tünnermann forscht weiter jedoch erhält er vorerst keine konkreten Hinweise über den Zeitpunkt des Absturzes, den Maschinentyp und den Verbleib der Besatzung. Er erbittet das Foto, das Heinz von Holdt ihm freundlicherweise auch überlässt und das Gunther mir beim ersten Treffen nach seiner Rückkehr von Pellworm zeigt. Keiner von uns ahnt, daß wir durch jene vergilbte Aufnahme das Schicksal zweier Flieger kennenlernen sollten - die Geschichte von Heinz Born, Unteroffizier der Luftwaffe, und Pilot Officer Andre Cantillion von der Royal Air Force.
Wir wollen den Ereignissen nicht weiter vorgreifen, denn zunächst nehmen, wie bereits erwähnt, unsere Recherchen einen ganz anderen Verlauf. Durch Studium von Einsatzberichten weiß ich, daß am 7. April 1945 - es ist der Tag, an dem das als "Sonderkommando Elbe" bekannt gewordene Rammunternehmen deutscher Jagdflieger stattgefundenhatte - eine amerikanische B-17 G vor Pellworm niedergegangen sein könnte. Diese von 1st Lieutenant Sharp gesteuerte Fortress der 452nd Bomb Group war über dem Steinhuder Meer durch Bordwaffenbeschuß schwer beschädigt worden und konnte sich nach Ausscheren aus dem Verband bis zur norddeutschen Küste durchschlagen. Man sichtete die Maschine zum letzten Mal kurz vor 13.00 Uhr bei St. Peter-Ording, bevor sie in Richtung Pellworm verschwand. Einen Brief, den ich im Oktober 1982 von Roger A. Freeman aus England erhalte, kann ich noch weitere Details entnehmen: Drei Mann der insgesamt zehnköpfigen Bomberbesatzung gelten auch heute noch als vermisst, darunter der Pilot, 1st. Lt. Oabney W. Sharp.
So vermute ich, daß es sich bei den 1948 auf Süderoog-Sand entdeckten Wrackteilen um die Reste von Sharps B-17 handeln könnte. Immer wieder sehe ich mir das Foto an, und ich muß gestehen, daß es mir nicht gelingt, markante Einzelheiten zu erkennen, die mit Bestimmtheit auf eine amerikanische Fortress hindeuten. Gunther und ich erwägen, im kommenden Sommer gemeinsam auf Pellworm Urlaub zu machen, um bei dieser Gelegenheit mit Hilfe Heinz von Holdts und des Fotos die Absturzstelle auf Süderoog-Sand zu lokalisieren. Vielleicht, so überlegen wir, läßt sich tatsächlich noch etwas von der abgestürzten Maschine finden. Natürlich erklärt sich von Holdt bereit, uns bei einer Fahrt mit seinem Schiff in die Muschelbänke mitzunehmen, um uns auf der Sandbank abzusetzen.
Im ·Juli 1982 ist es dann soweit. Mit Suchgeräten ausgerüstet und voller Optimismus gehen wir an Bord der mit einem Kran -bestückten "Maria", die zeitig am Morgen den Anker lichtet und auf Südwestkurs geht. Am Ruder Heinz von Holdt. Wir erreichen Süderoog-Sand am frühen Vormittag. Uns bleiben etwa ein bis zwei Stunden für die Suche nach dem Flugzeug, derweil die "Maria" weiter abseits Muschelkies vom Meeresboden heraufholen wird.
Einen Abzug der Aufnahme von 1948 in der Hand versuchen wir uns zu orientieren, die beiden Bezugspunkte auf dem Foto sind eindeutig. Aber wir haben das Wetter unterschätzt. Während wir die Sandbank ablaufen, ist es unterdessen so diesig geworden, daß Süderoog gerade noch schwach erkennbar sich vom Horizont abzeichnet. Von Norderoog-Sand ist überhaupt nichts zu sehen. Uns fehlt also ein wichtiger Anhaltspunkt; die Wirklichkeit vor Ort sieht in der Tat ganz anders aus, als auf der Fotographie. Wir suchen aufs gerate wohl, doch dies nützt uns letztendlich recht wenig. Zudem schreitet die Zeit schnell voran. Schon beobachten wir, daß Heinz von Holdt seine Arbeit beendet hat und in Kürze bereit sein wird, unser Schlauchboot wieder aufzunehmen. Also Abbruch der Aktion und Rückkehr zum Wasser. Enttäuscht und ziemlich durchnässt erreichen wir das Schiff.
Selbstverständlich denken wir nicht daran aufzugeben, da ich ja weiß, daß hier möglicherweise noch drei Vermisstenschicksale aufzuklären sind. Schon lange vor diesem geplanten Pellworm-Urlaub hatte ich aus letzterem Grund Kontakt mit dem Frankfurter Büro der US Army Memorial Affairs Activity, Europe (etwa dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge entsprechend) aufgenommen und diese Dienststelle über den Absturzort eines offenbar amerikanischen Kampfflugzeugs informiert. Man zeigte sich sehr interessiert, jedoch eine Hilfestellung bezüglich einer eventuellen Bergung vermochten die Amerikaner nicht zu eben. Da eine solche Bergung ohnehin erst infrage käme, wenn wir mit unserer Suche auf Süderoogsand einen Erfolg aufweisen konnten, ließ ich die Angelegenheit erst einmal auf sich beruhen. Wie schon berichtet, verlief unsere Aktion dann leider doch ergebnislos.
Nun weiß ich nicht mehr, von wem Gunther und ich einige Zeit später, aber noch auf Pellworm, schließlich den - wie sich herausstellen soll – entscheidenden Hinweis erhalten. Ist es Nickels Liermann von der Tammwarft oder Johann Hansen aus Westertilli oder einer der vielen anderen Befragten, der uns die wichtige Information liefert? Es wäre ein Engländer gewesen, hieß es, vermutlich ein Aufklärer, der schon etwa im Jahr 1942 abgeschossen worden sei.
Da mein umfangreiches "Archiv" im Augenblick nicht greifbar ist, versuche ich in Gedanken, die mir bekannten Abschußmeldungen deutscher Jagdflieger über Schleswig-Holstein durchzugehen und plötzlich fällt mir ein, daß ein Unteroffizier Born vom Jagdgeschwader I im genannten Zeitraum über den Halligen eine Spitfire zum Absturz gebracht hatte. An das genaue Datum kann ich mich im Augenblick zwar nicht erinnern, aber nach Hause zurückgekehrt hole ich sogleich die entsprechenden Unterlagen hervor, aus denen ich-ersehe, daß Uffz. Born den genannten Abschuß am 17. August 1942 verbuchte. Sein Gegner, ein Spitfire-Aufklärer, stürzte auf Süderoog-Sand ab. Anschließend werte ich das Foto noch einmal gründlich aus und vergleiche die wenigen erkennbaren Wrackteile mit Plänen der Spitfire. Und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Das längliche, rohrartige Gebilde ist einwandfrei der Antennenmast einer Spitfire. Auch die Lochplatten lassen sich nun einordnen. Sie sind mit den in der Spitfire verwendeten Streben identisch.
Endlich wissen wir mit Sicherheit, um welchen Flugzeugtyp es sich handelt, an welchem Tag der Absturz erfolgte und sogar wer die Maschine bezwungen hat. Mit diesen Erkenntnissen ist der Fall Süderoog-Sand eigentlich geklärt, jedoch will ich die Episode zu einem endgültigen Abschluss bringen. Da der Name des· einen Piloten bekannt ist, wäre es wohl höchst interessant, auch die Identität des Gegners festzustellen. Ich schreibe daher an Roger Freeman, der mir allerdings nicht weiterhelfen kann; Deshalb wende ich mich an das Ministry of Defence in London mit der Frage, ob man dort anhand der mitgelieferten Luftkampfdaten den Namen des britischen Flugzeugführers ermitteln kann. Die mit Spannung erwartete Antwort ist positiv. Man schreibt mir, daß es sich bei dem am 17. August 1942 über den Halligen abgeschossenen Spitfire-Piloten um P/0 Andre Cantillion handelt, einem Belgier.
Dem Ziel noch näher versuche ich über das "Jägerblatt", dem auch im Ausland gelesenen Mitteilungsblatt der Gemeinschaft der Jagdflieger, aus dem großen Kreis der Leserschaft eventuell weitere Hinweise zu dem betreffenden Ereignis zu erhalten. Abermals vergeht eine Zeit ungeduldigen Wartens, zumal das Blatt nur alle zwei Monate erscheint.
Da meldet sich Jean-Louis Roba aus Belgien, der an den Biographien belgischer Piloten arbeitet, die während des Zweiten Weltkriegs bei den verschiedensten Luftstreitkräften der Alliierten Dienst taten. Natürlich ist ihm der Name Cantillion nicht unbekannt, und etwa zwei Wochen darauf schickt mir Roba sogar Fotos von diesem belgischen Fliegeroffizier. Nun ist alles komplett. Eine Darstellung des schicksalhaften Zusammentreffens der beiden Piloten Born und Cantillion soll den Abschluss der vorliegenden Aufzeichnung bilden.
Montag, 17. 'August 1942. Ein nahezu wolkenloser Himmel wölbt sich über den norddeutschen Küstengebieten. Auf dem Fliegerhorst Husum, Liegeplatz ·der III. Gruppe des Jagdgeschwaders I, erwarten die Flugzeugführer wieder die üblichen Einsatzbefehle: Abwehr von Aufklärmaschinen vom Typ Spitfire und Hudson der leichten Kampfverbänden sowie Sicherungsflüge für eigene Geleite.
Noch im Jahr 1942 sind gegnerische Einflüge über Schleswig-Holstein verhältnismäßig selten, und nur in vereinzelten Fällen kommt es zum Luftkampf. Ab und zu lassen sich schnelle britische Spitfire-Aufklärer über den Gebieten nördlich der Elbe sehen, ihre Bekämpfung stellt für die deutsche Luftabwehr eine außergewöhnlich schwierige Aufgabe dar. Am 17. August gelingt es dann einem Flugzeugführer der III./JG I eine dieser Maschinen abzuschießen.
Unteroffizier Heinz Born, geboren am 27. Mai 1922 in Danzig, gehört erst seit kurzer Zeit der 9. Staffel an. Als um die Mittagszeit ein einzelner Aufklärer gemeldet wird, erhält Born mit seiner Focke-Wulf Fw 190 • A-3 die Startfreigabe, um die englische Maschine abzufangen. Nicht bekannt ist bislang, ob er allein aufgestiegen ist oder ob noch weitere Flugzeuge der Gruppe zum Einsatz gelangt sind.
Die Spitfire, ein unbewaffneter Aufklärer PR IV der 1. PRU (Photographie Resonnaissance Unit) war um 09.50 Uhr britischer Zeit von dem südostwärts Oxford gelegenen Platz Benson gestartet. Pilot Officer André Cantillion, geboren am 18. Mai 1922 in Wavre, war Angehöriger der ehemaligen belgischen Luftstreitkräfte und fliegt seit Januar 1942 bei der PR Heute hat Cantillion den Auftrag erhalten, Luftaufnahmen über Kiel zu machen. Es soll sein letzter Einsatz sein, denn Uffz. Born sichtet den Gegner bald und kann ihn über den nordfriesischen Halligen stellen.
Minuten später, um 12.23 Uhr, stürzt die von den Bordwaffengeschossen getroffene Spitfire AA 814 in die
Tiefe und zerschellt auf Süderoog-Sand südwestlich von Pellworm. Es ist Borns erster Luftsieg, ein Erfolg,
der nach der Landung auf ·Husum entsprechende Anerkennung findet.
P/0 Cantillion kommt beim Absturz seiner Spitfire ums Leben. Aufgrund einer Meldung Heinz von Holdts nach
dem Krieg bergen die Engländer seine sterblichen Überreste und bestatten sie auf dem britischen Militärfriedhof in Hamburg. Im Jahr 1952 wird Andre Cantillion in sein Heimatland Belgien überführt.
Das Wrack der Spitfire soll noch bis nach 1948 den Halligbewohnern als Orientierungspunkt des Wattenweges gedient haben, bevor es völlig versandete.
Auch Uffz. Heinz Born überlebt den Krieg nicht. Anfang Januar 1943 wird er während eines Geleitschutzeinsatzes verwundet, am 22. April 1944 fällt er im Luftkampf mit amerikanischen Jägern über Rhynern bei Hamm.
Werner Girbig
September 1983
Sammlung Gemeinschaft der Jagdflieger, Köln Sammlung Werner Girbig, Hattersheim
Sammlung Hans Ring, Übersee
Ministry of Defence, London
Dr. Gerhard Fölz, St. Peter-Ording
Roger A. Freeman, Dedham/England
Heinz von Holdt, Pellworm
Jean-Louis Roba, Charleroi/Belgien
Gunther Tünnermann, Kelkheim/Ts.